9

Crister Savström und Moa Schiöler hatten im kleinen Verhörraum mit seinen rauen Betonwänden ihre Stühle aneinandergerückt, so dass sie beim Warten miteinander kuscheln konnten.

Barbro überflog den Aufnahmebogen: Beide über dreißig, nicht verheiratet, jedoch gemeinsam an derselben Adresse in Fredhäll im Volksbuch eingetragen. Crister trug einen Wochenbart und eine Strickjacke, Moa eine weiße Bluse, aus der man nichts schließen konnte. Sie lehnte eng an Cristers Seite. Im Aufzug hatte Barbro die erste Aussage der beiden überflogen. Sie hatten die Bibliothek gegen halb zwölf verlassen, im Falafelkönig neben dem Hamburgerladen einen Imbiss gekauft und sich zum Essen auf die lange hüfthohe Mauer gesetzt, die den Park vom Sveavägen trennte.

„Auf eurer Höhe ist die Frau also auf der Straße aufgeschlagen. Wollt ihr mir erzählen, wohin ihr hingeschaut habt?“

Crister und Moa schwiegen.

„Wir wollen zuerst eine Anzeige machen“, sagte Crister nach einigen Sekunden.

„Eine Anzeige?“

Auf der anderen Seite des Tisches wurde einträchtig genickt. „Gegen die Polizistin.“

„Welche Polizistin denn?“

„Die junge, die bei der verunglückten Frau war“, sagte Moa, deren Stimme Barbro zum erstenmal hörte.

Barbro vermutete, dass der Anzeigenwunsch von ihr ausging, und Moas Stimme ließ auch keinen Zweifel daran, dass Crister nur gehorchte.

„Theresa Julander?“

„Sie hat den jungen Mann getreten und geschrieen, er solle in sein Land abhauen, wo er auf dem Bazar seinen Hintern an seinen Landsleuten reiben könne.“

Barbro stand der Mund offen. „Seinen Hintern soll er was?“

„Sie hat ‚Arsch‘ gesagt“, präzisierte Crister.

Barbro blätterte in ihren Notizen. Das musste Fayid Nahvi sein, der junge Einwanderer aus Persien. Er wartete in einem anderen Verhörraum.

Moa beugte sich vor. „Dabei hat er sich nur besorgt von hinten über sie gebeugt. Sie selbst kniete vor der Toten.“

„Also, Entschuldigung“, sagte Barbro. „Aber wir untersuchen hier den Tod eines Menschen. Können wir bitte auf den Unfall zurückkommen?“

Moa beugte sich wieder vor. „Das ist wichtig! Wir wollten schon beim Einsatzleiter Anzeige erstatten. Aber der hat nur gelacht und genau wie du behauptet, dass er dazu jetzt keine Zeit habe. Wann sollen wir bitte Anzeige erstatten?“

„Jedenfalls nicht jetzt! Ich bin die Reichsmordkommission, ich bin nicht für Dienstvergehen bei der Schutzpolizei zuständig.“

Nun beugte sich Crister vor. „Es ist eine rassistische Straftat. Bevor ihr keine Anzeige aufnehmt, sagen wir auch nicht aus.“ Stolz ließ er sich in die Lehne zurücksinken.

Damit macht ihr euch selbst strafbar, wollte Barbro erst erwidern, aber es wäre jetzt wirklich nicht klug gewesen, den Graben noch tiefer zu schaufeln. Das war keine gute Sache für Theresa.

„Die Sicherheitspolizei prüft ohnehin alle Protokolle auf rassistische Ausdrücke“, erzählte Barbro und lächelte milde.

„Meinst du die Säpo?“, Moa lachte spitz.

„Ja, sie ist für den Schutz der Verfassung zuständig.“

„Die Säpo war auch für den Schutz von Olof Palme zuständig. Wir wollen jetzt Anzeige erstatten, sonst machen wir es beim Justizombudsman.“

„Oder beim Justizkanzler, Moa“, präzisierte Crister schon wieder.

Barbro erhob sich und wollte zur Tür. Dann raffte sie doch erst ihre Papiere zusammen und nahm sie mit. Draußen kam Kjell den Gang entlang.

„Ich kann Sofi nicht erreichen“, jammerte er, noch bevor er bei ihr angekommen war. „Der Streifenwagen vor ihrem Haus meldet, dass sie nicht zu Hause ist. Ich schicke Theresa hin.“

„Warte! Theresa hat ein Problem.“

„Ich habe soeben in Norrmalm angerufen und sie für eine Woche freistellen lassen. Jetzt kann sie zeigen, ob sie die richtige ist, wenn sie im Herbst bei uns anfangen will.“

„Theresa ist das Problem.“

Barbro trug das Problem vor.

Kjell fluchte. Sie kannten Theresa nicht gut, jedoch so gut, dass sie die Anschuldigung nicht ernsthaft anzweifelten.

„Kann sie sich nicht endlich mal zusammenreißen?“

Barbro blickte ernst drein. „Du kannst Theresa nicht nehmen. Das funktioniert nicht.“

„Aber sie ist gut. Schau in die Verhörräume. Sie hat die Sache Sekunden nach dem Unfall richtig erkannt und die Zeugen in wichtige und unwichtige eingeteilt.“

„Geh bitte zu Crister Savström und Moa Schiöler und versprich ihnen, dass du die Sache verfolgst. Sonst bekomme ich keine Aussage von den beiden.“

Kjell schlug beim Öffnen hart auf die Türklinke und fragte, was geschehen war, ohne den Raum zu betreten. Moa berichtete erneut und wollte sogleich wieder Anzeige erstatten.

„Ich kümmere mich darum“, sagte Kjell dann. „Aber ich habe hier die Amtsgewalt und ihr die Aussagepflicht. Wir suchen einen Autofahrer, der eine Frau totgefahren und ein junges Mädchen schwer verletzt hat.“

Crister und Moa nickten artig. Barbro drängte sich an Kjell in den Raum vorbei und schloss wieder die Tür. Um sich zu sammeln, nahm sie die Skizze des Unfallorts aus ihrer Mappe und plazierte sie sorgfältig auf dem Tisch. Sie deutete auf die eingezeichnete Stelle, wo die Frau mit dem Auto zusammengestoßen war.

„Ihr seid also hier gesessen, auf der Mauer.“

Moa nickte kooperativ und deutete auf die Stelle, wo Barbro den Sitzplatz auf der Mauer einzeichnen sollte. Er lag ganz vorne, weit entfernt von der Stelle, wo die Tote aufgeschlagen war.

„Das sind etwa zwanzig Meter. Habt ihr den Zusammenstoß bemerkt?“

„Es war sehr laut. Vor allem aber war das Scheinwerferlicht so hell.“

Crister meldete sich zu Wort. „Er hat die Lichthupe betätigt. Wir haben in dieser Richtung erst etwas erkennen können, als der Wagen auf unserer Höhe war.“

„Und die Frau?“

„Die haben wir wegen des Lichts erst entdeckt, nachdem der Wagen bereits an uns vorbei war. Da lag sie auf der Straße. Direkt vor uns.“

Moa fuhr mit dem Zeigefinger über die Skizze. „Sie muss dorthin geschleudert worden sein. Der Wagen war fast so schnell wie sie. Er hat unseren Blick auf die Frau verdeckt. Außerdem waren ja noch die geparkten Autos dazwischen.“

Das stimmte mit der Stelle auf der Straßenmitte überein, wo die Frau gelegen hatte. Der Wagen hatte sich die ganze Zeit auf der rechten Spur gehalten.

„Hat der Wagen auf eurer Höhe noch beschleunigt?“

„Ja.“

„Hat er irgendwann einmal abgebremst?“

Beide schüttelten den Kopf.

Barbro sprach nun an, was die beiden bereits an Ort und Stelle ausgesagt hatten. Sie bestanden darauf, dass zwei Personen in dem schwarzen Wagen gesessen hatten, und tippten dabei auf Männer. Die Automarke konnten sie nicht mal schätzen. Es hatte sich jedoch um eine Mischung aus einem Geländewagen und einem Familienbus gehandelt, denn beide hatten eine Schiebetür an der Seite erkannt. Darin stimmten alle bisherigen Aussagen überein.

„Was ist danach passiert? Das muss ich ganz genau wissen.“

Die beiden sahen sich erstaunt an.

„Ich meine, nachdem der Wagen weg war.“

Crister rückte ein wenig auf seinem Stuhl nach vorn und blickte schräg auf die Tischplatte, wo die Betroffenheit zu Hause war. „Ich habe mich auf die Mauer gestellt, um sicherzugehen, ob dort wirklich jemand lag. Sitzend konnte ich es nicht genau erkennen. Moa ist sitzengeblieben.“

„Was haben all die anderen Menschen in dieser Zeit gemacht?“

„Die haben nichts gemacht“, sagte Moa. „Viele haben sich ein Stück auf die daliegende Frau zubewegt, aber dann haben sie alle angehalten und gestarrt.“

„Und was hast du gesehen, Crister?“

„Ein Mann rannte auf die Straße zur Frau und hat sich über sie gebeugt. Der ist Arzt, dachte ich und zog mein Telefon aus der Tasche, um den Notruf zu verständigen.“

Nun waren sie an dem Punkt angekommen, der Theresa bei ihren ersten Befragungen aufgefallen war.

„Wie lange war dieser Mann bei der Frau?“

„Als ich den Anruf beendete, kniete bereits die Polizistin vor der Frau. Der Junge stand hinter ihr. Und dann kamen einige andere Leute hinzu. Die Polizistin hat sich dann zu dem Jungen hinter ihr umgedreht und ihn angebrüllt.“

„Okay. Noch einmal zurück. Was hat der Mann bei der Frau getan und wie sah er aus?“

„Die Frau lag ja auf dem Bauch. Er hat ihr an den Hals gefasst, als fühlte er ihren Puls.“

„War das der Mann mit der Glatze?“

„Oh nein! Der sprang erst später aus seinem Auto, als die Polizistin schon da war.“

„Also war der Mann, von dem du redest, zuvor bei der Frau und wieder weg, als meine Kollegin hinzukam? Verstehe ich das richtig?“

„Ja ja. Dann hat er ihren Körper betastet. Zuerst dachte ich ja, er wäre Arzt, weil er so beherzt hingelaufen ist. Aber das sah nicht nach erster Hilfe aus, was er tat.“

„Wie sah es denn aus?“

„Hilflos vielleicht.“

„Kann er sie durchsucht haben?“

„Das kann sein. Er hat sie ja nicht mal umgedreht. In diesem Moment meldete sich dann der Notruf. Die wussten jedoch bereits, dass etwas geschehen war und wollten nur wissen, ob ich das Nummernschild erkannt hatte.“

„Ist der Mann zu der Frau gerannt oder normal gegangen?“

„Gerannt. Der ist richtig gerannt.“

„Woher kam er genau? Wo war er davor?“

„Keine Ahnung. Ich habe ja nur auf die Frau gestarrt. Er kam plötzlich in mein Blickfeld.“

„Kannst du ihn beschreiben?“

„Dunkle Haare und schwarze Kleidung. Ein Pullover und Jeans vielleicht. Die Haare waren auch fast schwarz.“

„Konntest du sein Gesicht erkennen?“

Crister schüttelte den Kopf.

„Wie alt schätzt du ihn?“

„Jung war er nicht mehr. Dreißig, vierzig, fünfzig?“

„Eine Jacke oder eine Tasche? Etwas Auffälliges? Ein dicker Bauch oder ein Bart?“

„Nein. Er war auf jeden Fall glattrasiert, weil seine Haut geglänzt hat, das Haar dunkel, die Figur normal, also eher schlank als dick. Schwarze Schuhe trug er.“

„Und wie groß war er?“

„Ziemlich klein. Der stammte auf jeden Fall aus Südeuropa“

„Du hast dich also dann auf das Telefongespräch konzentriert und den Mann aus den Augen verloren. Hast du ihn nach dem Auflegen noch einmal gesehen?“

„Das war komisch. Der war einfach weg.“

03 - Der kopflose Engel
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